Sind Erinnerungen Dinge, die man wie Gegenstände verstecken und die man auf wundersame Weise wiederentdecken kann? Viele Menschen glauben, dass sie aktuelle Probleme lösen können, wenn sie sich nur an ihre Vergangenheit erinnern könnten. Denn darin läge die Ursache, so die Zuversicht. Dies ist auch der Grundgedanke in vielen Behandlungsformen.
Es ist der Glaube, dass man emotionale Wunden heilen kann, wenn man wieder Zugang zu seinen vermeintlich verdrängten Erinnerungen hat, sie abermals durchlebt und Erkenntnisse daraus ziehen kann. Die dabei in der Folge entwickelten Pseudoerinnerungen können verheerende Folgen haben – für Familien, Kinder, Verwandte.
Beim Beleuchten dieses Ansatzes in diesem Artikel werden wir jedoch feststellen müssen, dass er oft mehr schadet, als dass er nützt.
Was sagt die Forschung über Erinnerungen?
Wenn Menschen glauben, dass ihre Erinnerungen ein vollständiges und reales Abbild der Realität darstellen, beruht jede darauf basierende Therapie oder Veränderungsarbeit auf einem fatalen Bedeutungsirrtum. Für Therapeut*innen ist es daher wichtig, Erinnerungen ihrer Klient*innen auf den Prüfstand zu stellen und verstehen zu helfen, wie eigene Emotionen und Überzeugungen die Gehirnprozesse beim Speichern und Erinnern beeinflussen.
Wissenschaftlich belegt ist, dass Erinnerungen ungenau und veränderbar sind. Auch ist der Erinnerungsprozess von verschiedenen Faktoren wie vom Zeitablauf, dem Grad der emotionalen Beteiligung und dem sozialen Kontext beeinflusst. Ebenfalls kann sich die Genauigkeit des Gedächtnisses im Laufe der Zeit durch Prozesse wie rekonstruktive Erinnerung und Quellenverwirrung verändern. Das kann dazu führen, dass sich Menschen falsch an vergangene Ereignisse erinnern.
Beispiel: Eine Zeugin, die einen Polizisten sagen hörte, „er habe eine rote Jacke dabei gehabt“. Diese Zeugin sagt später aus, sie habe die rote Jacke gesehen.
Erinnerungen entstehen sowohl aus eigenen Wahrnehmungserfahrungen als auch aus Gedanken, Gefühlen, Schlussfolgerungen und der Vorstellungskraft.
In einer Studie hatten die Kognitionspsychologen Elizabeth Loftus und John Palmer bereits 1974 festgestellt: Menschen, die sich an einen erlebten Autounfall erinnern sollten, änderten ihre Schilderungen, nachdem sie irreführende Informationen erhalten hatten. Das zeigt auf, dass Erinnerungen unzuverlässig sind und durch äussere oder nachträgliche Informationen beeinflusst werden (vgl. Loftus et al. 1974).
Wie zuverlässig sind unsere Erinnerungen?
Gedächtnisverzerrungen treten auch bei falschen Erinnerungen auf – Erinnerungen, an die man sich lebhaft erinnert, die aber nie stattgefunden haben – und die durch Suggestion und Wiederholung auch unbeabsichtigt erzeugt werden können. Diese falschen Erinnerungen treten häufiger bei emotionalen Themen auf, da das Gehirn die Lücken in der Erinnerung mit Details aus ähnlichen Erfahrungen oder Erinnerungskonstruktionen füllt.
Laut einer Studie von Dr. Elizabeth Loftus und Dr. Katherine Ketcham müssen Menschen besonders vorsichtig sein, die sich an traumatische Ereignisse erinnern. In diesen Fällen ist es typisch, dass diese Erinnerungen verfälscht oder verzerrt werden. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass mehr als 40% der Testpersonen nach einer Hypnotherapie falsche Erinnerungen an Dinge hatten, die nie stattgefunden haben. Auch in anderen Versuchen konnte gezeigt werden, dass falsche Erinnerungen unter Einfluss von Suggestion entstehen können (vgl. Loftus 2013).
Die Forschung zeigt, dass ein wesentlicher Bestandteil unserer persönlichen Biografie auf ungenauen Erinnerungen oder falschen Interpretationen vergangener Ereignisse beruht und nicht auf zuverlässigen Fakten. Daher scheint es wichtig, Erinnerungen mit Bedacht zu geniessen.
Es ist von Bedeutung, die eigenen Erinnerungen zu hinterfragen. Damit ändern wir vorgefasste Ansichten über erlebte Ereignisse und entwickeln neue Handlungsoptionen. Unsere Erinnerungen sind zwar eine wichtige Komponente unserer Identität und sie beeinflussen unser Verhalten und unsere Entscheidungen; aber die Fähigkeit, unsere eigene Vergangenheit differenziert zu betrachten, hilft uns dabei, bessere Entscheidungen für die Zukunft zu treffen.
Gibt es „verdrängte“ Erinnerungen?
Elisabeth Loftus untersuchte in einer Forschung „wiedergefundene“ Erinnerungen, die angeblich jahrelang im Unterbewusstsein verdrängt wurden. Dabei ging es darum, traumatische Ereignisse aufzudecken. In ihren Ergebnissen zeigt sie, dass es keine wissenschaftlichen Beweise für die Auffassung gibt, „verdrängte“ Erinnerungen wiederzuerlangen. Sie warnte deshalb Kliniker*innen und Therapeut*innen davor, Erinnerungen durch Hypnose oder andere suggestible Therapieformen zu untersuchen (vgl. Otgaar et al. 2019).
Sie argumentierte, dass viele dieser sogenannten „wiedergefundenen Erinnerungen“ falsche Erinnerungen sind, die durch Suggestion, Fantasie oder sogar Konfabulation (Ausfüllen von Lücken mit erfundenen Details) entstehen. Mit anderen Worten: Sie mögen sich real anfühlen, doch sind diese Pseudo-Erinnerungen keine genaue Widerspiegelung vergangener Ereignisse.
Aufgrund von Suggestibilität und der Erinnerungsverzerrungen kann dies zu äusserst ungenauen Resultaten führen, was schwerwiegende psychologische Folgen für die Patient*innen und deren Angehörige haben kann. Man erinnere sich hier an die „Verdrängte-Erinnerungen-Epidemie“ zu Kindesmissbrauch in den 1980er-Jahren in den USA, aufgrund angeblich aufgedeckter verdrängter Erinnerungen. Auch im deutschsprachigen Raum und in der Schweiz wurden in naher Vergangenheit wiederholt ähnliche Fälle bekannt (vgl. NZZ, Tages-Anzeiger, SRF 2021 – 2022).
Letztlich beleuchtet Elizabeth Loftus’ Forschung über Gedächtnisfehler die Zerbrechlichkeit und Plastizität von Erinnerungen. Wir sollten skeptisch bleiben, wenn wir uns auf unsere eigene persönliche Geschichte verlassen wollen, ohne sie vorher mit zuverlässigen Quellen überprüft zu haben (vgl. Otgaar et al. 2019).
Falsche Erinnerungen können suggeriert werden
Elizabeth Loftus’ Studie aus dem Jahr 1996 zeigt, dass Menschen aufgrund von Suggestionen falsche Erinnerungen erzeugen (vgl. Loftus et al 1996). Dieses Ergebnis wurde durch eine weitere Studie aus dem Jahr 2011 bestätigt. In dieser wurde festgestellt, dass viele Menschen durch suggestive Therapiepraktiken falsche Informationen über ihre eigenen Erinnerungen erhielten (vgl. Foster et al 2012).
In einer weiteren Studie belegte die Erinnerungsforscherin Julia Shaw, wie schnell falsche Erinnerungen erzeugt werden können. Mit suggestiven Techniken zum Abrufen von Erinnerungen wurden die Teilnehmer dazu veranlasst, falsche kriminelle und nicht-kriminelle emotionale Erinnerungen zu erzeugen. Sie verglichen diese falschen Erinnerungen mit wahren Erinnerungen an emotionale Ereignisse. Nach bereits drei Interviews konnten 70% der Teilnehmenden als Personen mit falschen Erinnerungen eingestuft werden (vgl. Shaw, Porter 2018).
Diese Studien belegen, dass das Entwickeln falscher Erinnerungen eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich ist, wenn Kliniker*innen und Therapeut*innen mit suggestiblen Vorgehensweisen arbeiten (z. B. Hypnose etc.). Daher sollten Hypnose und andere suggestible Therapieformen nur mit äusserster Vorsicht eingesetzt werden, damit keine falschen Erinnerungen bei Menschen entstehen können.
Was bedeutet dies für Therapeut*innen und Coaches?
Für Coaches, Kliniker*innen und Therapeut*innen sind diese Forschungsergebnisse elementare Hinweise für die Arbeit mit Klient*innen. Zusammengefasst:
- Veränderungsarbeit mit suggestiblen Techniken findet nicht mit „echten“ Erinnerungen statt.
- Es gibt keine echte Regression, um vormals Erlebtes nochmals erleben zu können. Es ist augenscheinlich kreatives Assoziieren von z. T. zusammenhanglosen Erinnerungsfragmenten mit einer starken Erlebnisebene.
- Erinnerungen sind veränderbar.
- Erinnerungen fühlen sich möglicherweise echt an. Jedoch ist das Gefühl kein Beleg dafür, dass die Erinnerung ein reales Ereignis war.
Wie beeinflussen die Erkenntnisse die Arbeit von Hypnose-Coaches und Hypnose-Therapeut*innen?
Aus den obigen Erkenntnissen kann u. a. Folgendes abgeleitet werden:
Kontinuierliches Überprüfen der Hypothesen und Erklärungsmodellen
Dass etwa regressive hypnotische Vorgehensweisen wirksam sind, steht ausser Frage. Wirksam bedeutet, dass Klient*innen ein psychisches Leiden mit dem Vorgehen verändern können. Wirksam jedoch auch in der Hinsicht, dass falsche Erinnerungen ihren Weg in das wirkliche Leben finden werden.
Die Wirkhypothese der Regression: Es gibt eine ursächliche Erfahrung, die zum jetzigen Leiden geführt hat. Wenn diese mittels Regression „gefunden und aufgelöst“ wird, schwindet auch das Leiden dahin. Diese Hypothese ist das beste Erklärungsmodell Mitte des letzten Jahrhunderts, um die Beobachtungen erklären zu können. Vieles dessen fusst auf der Theorie von Sigmund Freud. In dessen psychoanalytischem Modell finden sich Ursachen von Probleme an einer von einem selbstständigen Unterbewusstsein verdrängten Erfahrung aus der Vergangenheit, resp. Kindheit.
Das Erklärungsmodell regressiver Vorgehensweisen ist, wie oben dargelegt, aus neurobiologischer und wissenschaftlicher Sicht längst überholt. Sie wirken nicht aus den Gründen, an die man glaubt. Sie bergen zudem erhebliche Risiken. Diese führten beispielsweise bis zum Ende des letzten Jahrtausends in den USA zu einer noch nie dagewesenen Schadenswelle. Rechtsexperten schätzten die Schadenersatzklagen von durch Therapie Geschädigten und deren Angehörigen auf $250 Millionen aus etwa 17’000 Fällen (vgl. Ofshe, Watters 1995).
Es ist daher eine dringende Empfehlung, dass mit Hypnose und suggestiblen Methoden Arbeitende ihre Thesen kontinuierlich auf Evidenz und Risiken überprüfen und aktualisieren.
Klient*innen selbstwirksamer werden lassen
Was Menschen mit ihren Erinnerungen erleben, ist nicht das, was in der Vergangenheit tatsächlich stattfand. Es ist viel eher das, was das Gehirn als wichtige Informationen daraus gespeichert hat und was die Geschichte für sie bedeutet. Inhalte werden reassoziiert, konfabulisiert und mit anderen Inhalten vermischt. Das soll nicht heissen, dass Menschen dabei lügen – sie glauben, dass die Erinnerungen die Wahrheit sind. Es heisst auch nicht, dass sie etwas nicht erlebt haben. Sondern, dass sie dies nicht jetzt erleben.
Es ist erstrebenswert, dass mit Hypnose und suggestiblen Methoden Arbeitende ihre Klient*innen aufklären, woran tatsächlich gearbeitet wird: An Erinnerungsfragmenten, die teilweise dysfunktional und störend sind. Ein weiterer Wunsch ist an der Stelle, dass Fachpersonen ihr Wissen über Neurobiologie und Erinnerungen kontinuierlich aktualisieren.
Dass Klient*innen glauben, Erinnerungen seien die Wahrheit, ist de facto ein Trance-ähnlicher Zustand. Unter der falschen Vorannahme, mit suggestiblen Vorgehensweisen zu arbeiten, wäre zumindest falsch, wenn nicht sogar fahrlässig. Zudem könnte es andere Problemkomponente verstärken. Wie im Fall einer Klientin, die unter Hypnose unter Anleitung eines Therapeuten unerwünscht eine Kindheitsgeschichte „aufdeckte“, die ihre Beziehung in der Folge zu den Eltern auf mehrere Jahre schwerst störte. Das Erlebnis verstärkte ihre Unsicherheit, woraufhin sie medikamentös eingestellt wurde, um den Alltag bestehen zu können.
Wenn Klient*innen lernen und besser verstehen, was der Zusammenhang zwischen Erinnerungen und Emotionen sind, würden sie im Umgang damit selbstwirksamer. Letzteres ein Credo vieler Coaches und Therapeut*innen.
Schlusswort
„Wenn wir verstehen, wie Erinnerungen funktionieren, können wir unser Leben schöner machen. Weil wir wissen, dass wir im Jetzt leben und wir die Vergangenheit in der Vergangenheit lassen können. Da wir ohnehin jedes Mal, wenn wir uns erinnern, eine neue Geschichte schreiben. Damit kann man der Autor seines Lebens werden“, sagt die Erinnerungsforscherin Julia Shaw in einem Interview (vgl. Shaw 2018).